Lebenserinnerungen der Maria Magdalena (Helene genannt) Winkler-Hermaden
TEIL 1 – Die neue Arbeitsstelle auf Schloss Kapfenstein und die anfänglichen Hürden
Lebenserinnerungen der Magdalena Helene Winkler-Hermaden (1892–1965) – Für ihren Sohn Burkhardt, geschrieben in Baden bei Wien, Franzensring 15, Zimmer 12, in der Zeit von 14.–24. Juni 1942:
Lebenserinnerungen der Magdalena Helene Winkler-Hermaden (1892–1965) – Für ihren Sohn Burkhardt, geschrieben in Baden bei Wien, Franzensring 15, Zimmer 12, in der Zeit von 14.–24. Juni 1942:
Um ½ 4 Uhr Nachmittag des 12. Oktober 1916 im Weltkriege stieg ich in Graz Ostbahnhof in den Zug und fuhr einer Gegend bzw. meiner neuen Heimat entgegen, die mir bisher ganz unbekannt war. Ich soll bis Fehring fahren und dort aussteigen, mir einen Fiaker nehmen und nach Kapfenstein, dem neuen Dienstort fahren. Ich war aber viel zu sparsam, um den Fiaker aufzunehmen, so ging ich zu Fuß im Tale auf der Straße. Bald wurde es aber dunkel und mir war in der ganz unbekannten Gegend etwas bange. Eine Handtasche hatte ich auch zu tragen, die nicht ganz leicht war, da ich mir die allernotwendigsten Sachen mitgenommen habe, um zu probieren, ob es mir passt und erst dann wollte ich mir meine ganze Habe aus Graz abholen. Am halben Weg kam mir ein Mann nach und fragte mich, wohin ich gehe. Vor dem Mann ist mir etwas ängstlich zumute gewesen, denn erstens war es schon finster und zweitens sah der Mann wie ein Zigeuner aus. Er hieß P. Ich sagte zu dem Manne, mein Ziel sei „Schloss Kapfenstein“. Da sagte er, er gehe auch nach Kapfenstein und dann können wir zusammen gehen, er wird es mir zeigen, wann ich abzweigen muss. Ich fragte aber den Mann nichts über Kapfenstein, obwohl ich sehr neugierig war, wie das Schloss wohl aussehen mag. Außer in meinem Geburtsort (Schloss Pogled) war ich noch nie in einem Schloss und ich war jetzt sehr stolz, dass ich in einem Schloss werde sein können.
Bei der Schmiede zeigte mir der Mann kerzengerade in das Schloss hinauf; es war dunkel, ich habe nichts gesehen, ich konnte nur der Richtung nachgehen. Beim Pfarrhof angekommen steht auf der Stiege ein großer Hund und versperrt mir den Weg. Ich konnte nicht vorbei und rief, bis endlich aus dem Pfarrhof ein dienstbarer Geist kam und den großen Hund wegholte. (Später habe ich mit dem großen Bernhardiner, der Sultan hieß, Freundschaft geschlossen.) Nun ging ich zum Schloss.
Oben angekommen, empfing mich die Köchin, führte mich in die große schöne Küche, wo der Tisch sehr sauber gescheuert war. Dort empfing mich sofort das „Fräulein Paula“, meine Vorgängerin. Sie war sehr temperamentvoll, besah mich sehr genau und lächelte, fragte mich, welchen Auftrag ich von Herrn Rittmeister habe, fragte mich, ob ich etwas zum Nachtmahl haben will. Ich wollte nichts, mir war es sehr bange. Erst wollte auch der Herr Rittmeister mitfahren, er wurde verhindert und so musste ich allein fahren. Ich bat das Fräulein, mich sofort ins Bett begeben zu dürfen. Sie führte mich in den ersten Stock, „Dichterzimmer“.
Alles kam mir schrecklich groß vor. In dem großen Korridor brannte die große schöne Petroleumlampe, die den gewölbten Raum sehr romantisch beleuchtete. In dem schönen Dichterzimmer angelangt, gefiel es mir sehr gut, machte mir auch einen mächtigen Eindruck, verkroch ich mich sehr rasch unter die Decke. Ängstlich horchend, ob sich vielleicht die „Schlossgeister“ melden, verschlief ich selig und hätte wohl da nie gedacht, dass dieses wundervolle Schloss einmal meine wirkliche Heimat sein sollte.
Ich schlief sehr gut und fest, ich war ja sehr müde. In der Früh, als ich aufwachte und die Balken aufmachte, war ich ganz weg von der Naturschönheit. Das Schloss prangte auf einer Höhe, unten war ein Meer, es war ein Nebelmeer. Die Sonne ging prachtvoll auf; die Spitzen der Berge schauten aus dem Meer empor. Ich faltete die Hände und dankte Gott, dass er mich diese Naturschönheit schauen und erleben ließ. Mein Ausspruch zum Fenster zum Himmel hinauf mit gefalteten Händen war „hier leben und sterben“. Ich war unsagbar glücklich und nahm es mir vor, recht fleißig und treu zu sein, damit ich lange hier bleiben kann.
Das Fräulein Paula sollte mich in die Wirtschaft, Haus, Hof und Bücher einführen. Sie hatte aber nicht viel Lust, ich hätte es mir auch nicht alles merken können, denn alles machte mir einen großen Eindruck. Ich war kaum 24 Jahre alt und sollte jetzt die ganze Verantwortung für Haus, Hof, Bücher etc. tragen, für die Landwirtschaft hatte ich ja viel Interesse, ich verstand nur dies, was ich als Kind in meinem Elternhaus und bei den Bauern gesehen habe. Am Hof waren hauptsächlich Gefangene und Galizianer als Arbeitskräfte. Da ich in der Kindheit auch Slowenisch konnte, so war es möglich, mich halbwegs mit den vielsprachigen Leuten zu verständigen. Am Nachmittag kam der Herr Rittmeister und da wurde es mir schon heimlicher, er machte einen sehr väterlichen Eindruck auf mich. Nun reiste aber meine Vorgängerin, Fräulein Paula, die einen Hauptmann heiratete, ab und ich blieb als Sekretärin, Hausdame, Verwalterin, kurz und gut mit 1000 Verpflichtungen mit bangem Herzen zurück. Obwohl ich zuversichtlich war, war mir doch etwas schummrig, ob ich alles zur Zufriedenheit des Besitzers werde machen können. Schon am nächsten Tag stellte sich heraus, dass ich gar nicht Bescheid weiß. Fräulein Paula hat mich zu wenig eingeführt, ob mit Absicht oder ohne Absicht – bleib es dahingestellt. Herr Rittmeister war, wie sich gleich am ersten Tag herausstellte, ein sehr kranker Mann und rasch aufgebracht, aber er war unendlich gut und es tat ihm hinterdrein immer leid. Ich war kaum einige Tage da, da wurde ich doch verzagt, da ich es immer ausgemacht erhielt. Natürlich waren immer gleich die Tränen da. Als Herr Rittmeister drängte, ich möge mir meine Sachen aus Graz holen, da sagte ich ihm nach einem Auftritt, ich werde morgen nach Graz fahren, aber ich komme nicht mehr zurück. Dies ließ er nicht zu und entschuldigte sich sehr, dass er so aufgebracht ist. Da überlegte ich es mir noch einige Tage, er war nun immer artig und wenn er aufbrauste, entschuldigte er sich immer mit den Worten „er meint es nicht so schlimm, er ist schwer leidend und kann seine Nerven nicht so im Zaum halten“.
Inzwischen klagte ich mein Leid der alten Frau Köck, die in der Schule Handarbeitslehrerin war. Sie tröstete mich und sagte, Herr Rittmeister ist sehr gut, ich soll unbedingt bleiben. Nun sah ich in Frau Köck eine wirklich vernünftige Frau, die einem jungen Mädchen zuredet und nicht ab. Zwei Tage später, am 18. Oktober holte ich mir meine Sachen aus Graz. Jetzt machte ich mir mein Zimmer gemütlich. Herr Rittmeister war weiter aufgebracht, aber ich fasste es nicht mehr krumm auf, da ich wusste, er meinte es nicht so schlimm und nahm es ihm nicht mehr übel, aber er hat sich dann auch nicht mehr entschuldigt.
Ich gewöhnte mich sehr rasch und es war mir heimlich, als ob ich schon immer da gewesen wäre. Ich hatte große Freude für die Landwirtschaft und Haushalt wie Buchführung. Im Haushalte sah ich immer nur während der Arbeitspausen. Die Bücher und Korrespondenz machte ich immer erst nach 8 oder 9 Uhr abends und es dauerte oft bis 11 Uhr nachts. In der Früh im Sommer musste ich schon um 4 Uhr auf sein. Ich machte aber alles mit Freude und nichts wurde mir zu schwer.
Herr Rittmeister ist anfangs wohl in Kapfenstein gewesen, dann aber über den Winter in Graz und ich war allein in Kapfenstein. Der erste Winter war vorüber. 1917 ließ ich allerhand anbauen, da die Lebenshaltung schon schwer war. Wir erhielten Militär zur Arbeit, darunter war auch der jetzige Herr K., der Mann der Frau Pepi K. in der Sandgrube. Der Obstgarten hat wundervoll geblüht und wir erhielten sehr viel Obst. Nun mit der Zeit erfuhr ich auch, dass Herr Rittmeister große wirtschaftliche Sorgen hat und da trachtete ich noch mehr, dass wir Einnahmen hatten. Wir verkauften das Obst sehr gut, ich verschickte das Obst in der ganzen Monarchie, sogar nach Triest ging das Obst. Ich habe das ganze Obst immer allein verpackt. Wir hatten sehr gute Einnahmen.
Herr Rittmeister erholt sich sichtbar, da er nicht mehr die materiellen Sorgen hatte. Oft hörte ich aber das Wort von ihm, falls ich nicht sofort begriff: „Ach Fräulein, sind Sie dumm!“ Ich fragte mich oft: „Bin ich denn wirklich so dumm?“ Na, ich nahm mich noch mehr zusammen, aber es hat nichts genützt. Es war schon ein geflügeltes Wort „Ach Fräulein, sind Sie dumm!“. Nun machte ich mir nicht viel daraus, da ich trotz meines Bestrebens dies nicht abbringen konnte. Die Wirtschaft gedieh gut. Herr Rittmeister wollte den Besitz verkaufen, aber wenn es auf den Ernst kam, zog er den Kauf immer zurück. Er liebt Kapfenstein über alles und oft hat er mir gesagt, eine Woche möchte er als Gast auf Kapfenstein bleiben. Ich konnte das nicht begreifen, da ich es mir dachte, es ist doch viel schöner als Besitzer hier zu sein als als Gast.
Ich war unendlich gern in Kapfenstein, auch an Herrn Rittmeister gewöhnte ich mich gut, er war wie ein Vater zu mir und unendlich gut und besorgt. Ich durfte nie allein in der Nacht weg oder nach Hause gehen. Stets hat er mich durch die Köchin abholen lassen. Herr Rittmeister erkundigte sich auch ganz genau nach meinen Verhältnissen und als ich ihm alles erzählte, wie früh ich die Eltern verlor und wie früh ich mich schon selbst erhalten musste, da wurde er noch väterlicher zu mir und mir war es, als ob ich schon immer in Kapfenstein gewesen wäre und als ob Kapfenstein meine Heimat wäre.
Inzwischen wurde es eines Tages ganz ernstlich mit dem Verkauf. Ein gewisser Herr Dr. H. wollte den Besitz um 500.000 Kronen kaufen. Ich war sehr traurig, dass ich meine sehr gute Heimat verlieren soll, andererseits habe ich den Rittmeister verstanden, da er immer kränklicher wurde, dass diese Sorgen nichts für ihn sind. Ich bewarb mich da um eine neue Stelle. Da fragte aber Herr Rittmeister, was ich da für eine Korrespondenz habe. Ich erzählte: „Ich muss mich um eine neue Stellung umsehen, da Sie doch den Besitz verkaufen.“ Da sagte er, ich soll ihn doch nicht verlassen, ich kann doch weiter bei ihm bleiben. Er will eine große Wohnung in Rosenheim bei München mieten, für sich einen Diener aufnehmen und ich soll als Gesellschafterin und Hausfrau weiter bei ihm bleiben. Ich war darüber sehr froh, denn ich hatte Herrn Rittmeister sehr gerne, es wäre mir schwer angekommen, mich von ihm zu trennen.
Herr Rittmeister wird immer kränklicher, er kommt nur selten nach Kapfenstein, meist hält er sich in Graz im Sanatorium auf. Ich muss daher ganz allein wirtschaften. Plötzlich ist aus dem Verkauf nichts geworden, es hat sich herausgestellt, dass Dr. H. ein Schwindler ist. Nun ging der ganze Kauf zurück. Inzwischen hat sich Herr Rittmeister durch die gute Obsternte und durch mein gutes Wirtschaften materiell so gut erholt, dass er von einem Gutsverkauf abgekommen ist. Ich war darüber sehr froh, wenn auch schon die Arbeit sehr groß war, aber ich war an das Wirtschaften sehr gut schon gewöhnt.
Fräulein Paula ist immer wieder noch als Gast zu Besuch gekommen. Ich legte ihr nichts in den Weg, aber sie hat Verschiedenes beanstandet. Herr Rittmeister hat mich verteidigt, es kam aber doch zu Differenzen und ich wollte ernstlich weg. Als ich mich bei Graz um einen Posten bewarb, es war eine Mühle unter Puntigam, da sagte mir der Besitzer, bei dem ich mich vorgestellt habe (er war eine Kaffeehausbekanntschaft vom Rittmeister), so einen guten Posten wie ich es bei Herrn Rittmeister habe, werde ich nie wieder erhalten und soll es mir wohl gut überlegen, bevor ich weggehe. Dieser Ausspruch brachte mich zur Vernunft, ich dachte nach, wie gut ich es habe. Ich überlegte zwei Nächte und kam zu dem Entschluss, meine Kündigung zurück zu nehmen und fuhr zu diesem Zwecke nach Graz zum Rittmeister. An dieser Stelle muss ich noch bemerken, dass wie ich kündigte mir Herr Rittmeister auf einen Zettel schrieb – wir verkehrten nur mehr schriftlich – dass ich mir alle Brücken abbreche, wenn ich fortgehen würde. Dieser Ausspruch war mir nicht klar, na ich dachte eben, wenn ich es später doch bereuen würde, dürfte ich nicht mehr zurück. Beide diese Begebenheiten bewogen mich, die Kündigung zurück zu nehmen. Es war aber nicht mehr leicht, da bereits eine Nachfolgerin aufgenommen wurde. Ich musste selbst das Telegramm aufgeben: „Fräulein Kobula zog die Kündigung zurück und bat weiter zu bleiben.“ Da wurde aber auch mein Schicksal für Kapfenstein besiegelt. Es ist sich wirklich jeder seines Glückes Schmied! Ich blieb weiter, mit Herrn Rittmeister habe ich mich wieder ausgesöhnt und alles war wieder in Ordnung.